ALUMNI


Dr. Ulrich Pfarr
Freischaffend und Lehrbeauftragter an der Leuphana Universität Lüneburg (WS 2012/13)

Da ich 2012 wieder Lehrtätigkeiten aufnehmen konnte, veranlasst mich das zu Ende gehende Jahr zu einer Rückschau. Im Rahmen des innovativen Leuphana-Semesters der Universität Lüneburg sind Studienanfänger der unterschiedlichsten Fächer teils freiwillig, teils unfreiwillig mit kunsthistorischen Lehrangeboten zum übergreifenden Semesterthema konfrontiert. Diese heterogenen Voraussetzungen fordern dem Lehrenden selbst Lern- und Adaptionsprozesse ab. Zugleich korreliert der Ideenreichtum der jungen Generation in positiver Weise dem Auftrag, diese an selbstständiges und initiatives Arbeiten heranzuführen, und verhilft mir so zur Vergegenwärtigung eines selbst erlebten akademischen Ideals. Denn die stete Respektierung und Ermutigung eigenen Denkens und die Anstöße zum kritischen Weitertreiben der Forschung sind wesentliche Erfahrungen, die ich mit Klaus Herding verbinde.

Nicht zuletzt erhielt meine vor allem in musealen Kontexten fortgesetzte Expressionismus-Forschung durch das intensive Seminar „Nietzsche und die Kunst“ besondere Impulse. Damit einher ging seinerzeit eine weit über das Aufsuchen des genius loci hinaus ergiebige Exkursion ins Engadin, aus der sicherlich viele Teilnehmer nachhaltige Eindrücke behalten haben. Die vom Graduiertenkolleg „Psychische Energien bildender Kunst“ eröffneten Forschungsperspektiven bewogen mich maßgeblich, in meiner Dissertation den wechselweise von Psychiatrie und Anti-Psychiatrie vereinnahmten, für eine positivistische Kunstgeschichte wenig greifbaren Bildhauer Franz Xaver Messerschmidt zu untersuchen. In diversen Seminaren war mir der Forschungsbedarf bereits deutlich geworden, das Kolleg jedoch versprach ein fachübergreifendes Diskussionsforum und die nötige Infrastruktur, um unter Einbeziehung psychoanalytischer Kompetenzen zu arbeiten. Das Projekt stieß auf ungeahnte Schwierigkeiten. Doch von Klaus Herding habe ich gerade eines gelernt: über wissenschaftliche Probleme sollte man immer wieder neu und anders nachdenken. Dies beförderte die glückliche Entscheidung, das Vorhaben auf eine veränderte Grundlage zu stellen und methodisch Neues zu versuchen. Der interdisziplinären Reflexion psychoanalytisch informierter Methoden mit besonderem Blick auf Aspekte der Emotionsforschung habe ich in der Nachfolge des Kollegs zahlreiche Aktivitäten gewidmet, die u. a. zur Mitherausgabe eines umfassenden Handbuchs geführt haben. In diesem thematischen Umfeld ist auch ein aktuelles Forschungsprojekt angesiedelt.

Mein Volontariat an der Staatsgalerie Stuttgart von 2002 bis 2004 entriss mich dem universitären Kontext und entschädigte mit der unschätzbaren Erfahrung des Arbeitens in ständigem Umgang mit den Originalen. Nach dem Umzug der Graphischen Sammlung waren die Galerieräume des Neubaus erstmals zu bespielen, und dies mit einer Photosammlung, die von den Anfängen des Mediums bis zu aktuellen Arbeiten junger Künstler viele Entdeckungen bereit hielt. Bereichernde europäische Begegnungen vermittelte die Ausstellungs-Kooperation „Modernizmusok/Modernismen 1900-1930“ mit den Museen in Budapest; die Kolleginnen, die aus einer anderen Forschungstradition kamen, beindruckten durch Genauigkeit und strenge ästhetische Maßstäbe. Umso fundierter sein mussten die Argumente für die eigene Idee einer gesamteuropäischen Perspektive. Anschließend war ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter einer gänzlich außergewöhnlichen baden-württembergischen Landesausstellung tätig. Obwohl die fatale Verknüpfung mit der Fußball-WM den nominalen Publikumserfolg dämpfte, dürfte es doch Früchte getragen haben, dass das ebenso vorwitzige wie bestechende Konzept eines charismatischen Ausstellungsmachers hier auf meinen akademisch und museal geprägten Anspruch sowie auf selbst unter Extrembedingungen verlässliche Teamkollegen traf. Seither war ich in verschiedene museale Ausstellungen involviert und liefere beispielsweise für die Galerie Hübner & Hübner Katalogessays. Das Schreiben über neu geschaffene Kunstwerke, die noch nicht in die Semantik kuratorischer Textproduktionen eingetreten sind, empfinde ich stets als besonderes Privileg. Natürlich kann die Freude an solchen Tätigkeiten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gelegenheitsarbeiten in der Regel keinen nennenswerten Beitrag zur Existenzsicherung leisten. Das erwähnte, mittelfristig angelegte Forschungsprojekt befindet sich derzeit in der Phase der Antragstellung.

 

 

zurück